Kolumbien (Bild: shutterstock.com/Von OrlandoBeltran)
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Die Mörder im Dunkeln

Kolumbien (Bild: shutterstock.com/Von OrlandoBeltran)
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In Kolumbien forderte Polizeigewalt Tote und Verletzte — Auslöser ist die wegen der Corona-Maßnahmen explodierende soziale Ungleichheit.

von Christina Winterholler für Rubikon

Zu einer noch größeren Krise als COVID-19 selbst entwickeln sich die soziale Ungleichheit und die staatlich legitimierte Ausbeutung der kolumbianischen Mittelschicht in Form einer geplanten Steuer- und Gesundheitsreform. Gegen die angekündigte Steuererhöhung und Gesundheitsreform hatten Arbeiter- und Studentenorganisationen zu Protesten aufgerufen. Zwei Tage nach Beginn der landesweiten Proteste forderte der Ex-Präsident Álvaro Uribe Soldaten und Polizisten über Twitter auf, gegen die Demonstranten Waffen einzusetzen. Was seither täglich darauf folgt, ist der Beweis dafür, dass die Polizeigewalt in Kolumbien nicht auf das Fehlverhalten einiger weniger Beamter zurückzuführen ist. Sie ist ein strukturelles und systematisches Problem, das seine Wurzeln im Wesentlichen in der gesetzgeberischen Unterlassung und in veralteten Vorstellungen hat, wonach die Gewalt die öffentliche Ordnung garantiert und Heimat auf dem Fundament von Waffen gebaut wird.

Die Verzweiflung und Ohnmacht der Menschen und der tatsächliche Ernst der Lage werden von den kolumbianischen und europäischen Mainstream-Medien herunter gespielt beziehungsweise verzerrt wiedergegeben. Stattdessen tragen diese durch Framing und Desinformation zur Verschärfung der sozialen Lage bei, indem sie die Demonstranten als „Angreifer, Vandalen und Terroristen“ bezeichnen statt als „Studenten und Arbeiter“.

Andrés Garcia (1), Ingenieur und Berufsmusiker aus Cali, gibt uns in diesem Interview einen intimen Einblick darüber, wie er sein Land, seine Stadt und seine Mitmenschen in diesen Tagen des Ausnahmezustandes erlebt. Es ist ein Alltag, der von Angst um sein Leben und von politischer Ohnmacht geprägt ist. Er skizziert das Bild einer tief gespaltenen Gesellschaft, in der es schon längst nicht mehr um unterdrückte, ihrer Grundrechte beraubte Bürger geht, die sich gegen einen korrupten, militärischen Staat auflehnen, sondern in der sich Menschen jeder sozialen Schicht gegenseitig und untereinander zerfleischen.

Christina Winterholler: Wie ist die aktuelle Situation?

Andrés García: Gestern Nacht hat die Polizei die Demonstranten mit Tränengas und Schlagstöcken attackiert und auch Menschen, die auf der Straße waren, erschossen. Auf den Videos, die ich dir geschickt habe, ist das aufgezeichnet. Sie töten die Leute einfach so. Es ist ein Massaker. Auch werden Leute attackiert, die Aufnahmen von den Geschehnissen machen.

In einem der Viertel, in Siloé — es ist ein sehr problematisches Viertel — hat die Polizei eine Art Blockade errichtet und aus dem Viertel kommen keine Videos, kein Livestream mehr. Die Online-Signalübertragung ist blockiert und niemand weiß, was da genau los ist.

Die Sache ist, dass diese Polizeieinsätze nur nachts stattfinden, tagsüber ist es relativ ruhig, aber sobald die Dunkelheit hereinbricht, das ist hier ab 18 Uhr, 18.30 Uhr der Fall, werden die Polizeioperationen erneut aufgenommen. Die Polizisten lassen sich nicht als solche erkennen, da sie sich ohne Identifikation in der Dunkelheit bewegen. Die Dunkelheit nutzen sie, um unbemerkt zu bleiben — es ist nachts und im Dunkeln natürlich schwerer, Aufnahmen zu machen — während die Hälfte der Bewohner von Cali schläft und keine Ahnung hat, was da eigentlich vor sich geht.

Wie sieht es mit der Lebensmittelversorgung aus?

Im Moment sind die Supermärkte leer und es trifft kein Nachschub ein. Auch gibt es kein Benzin mehr. Wir haben zu Hause einige Vorräte und haben gestern bei einem Bauern, der uns normalerweise auch mit Gemüse versorgt, noch einiges kaufen können.

Wie erfolgt die Berichterstattung in den Medien?

Die offiziellen Medienberichte entsprechen nicht der Wahrheit. Beispielsweise berichtet Caracol Televisión, ein Fernseh- und Radiosender, dass der Frieden hier in Cali wieder hergestellt ist. Wo denn bitte, wo ist Frieden? Das ist eine Lüge. Da draußen herrscht Krieg. Der Sender RCN verzerrt die Berichterstattung mit Videos, die die Demonstranten als „die Bösen“ und die Regierung als um ihre Bevölkerung besorgt darstellen.

Welche Gruppen sind an diesen Protesten beteiligt und welche Ziele verfolgen sie?

Es gibt verschiedene Gruppen und nicht alle sind die, für die sie sich ausgeben. Das macht es kompliziert oder eigentlich unmöglich, bestimmte Aktionen einer Gruppe zuzuordnen, denn es gibt viele Infiltrierte.

Zum besseren Verständnis: Es gibt da einmal die ganz normalen Studenten. Das sind Studenten der öffentlichen Universität, Universidad del Valle, aber es haben sich auch Studenten von anderen Universitäten angeschlossen. Allerdings mischen sich auch Guerrilleros, also Untergrundkämpfer, Mitglieder der Paramilitärs, einer mit militärischen Gewaltmitteln ausgestatteten Gruppe, und Mitglieder bestimmter Banden unter die Studenten und es ist unmöglich, sie voneinander zu unterscheiden.

Wenn es dann zu Gewaltauschreitungen wie der Zerstörung öffentlichen Eigentums kommt, werden die Studenten dafür verantwortlich gemacht. Natürlich gibt es immer ein paar, die die Proteste ausnutzen und ihrer Zerstörungswut freien Lauf lassen, aber die Mehrheit der Demonstranten und die, die diesen Protest initiiert haben, sind Leute, die auf friedliche Weise ihrem Unmut Luft machen und mehr Gerechtigkeit fordern.

Was Siloé angeht, das Viertel, das ich vorhin erwähnte, da wohnen sozial ausgegrenzte Menschen und deren Mehrheit verfügt über sehr wenige Ressourcen, obwohl sie hart und ehrlich arbeiten. Dieses Viertel ist mit einem großen Stigma behaftet, weil sich dort die sogenannten Büros der Auftragsmörder (oficinas de sicarios) befinden. Für gewöhnlich belästigt die Polizei dort niemanden, weil es auch für sie ein gefährlicher Ort ist.

In diesem Milieu bewegen sich Auftragskiller, Guerilla-Milizen, et cetera. Gestern und heute ist die Polizei da reingegangen. Die Bewohner von Siloé haben Waffen und liefern sich Schlachten mit der Polizei, es wurden auch Polizisten getötet. Allgemein ist die Dunkelziffer der Opfer hoch, aber offizellen Berichten zufolge sind es nur einige wenige. Nach dem, was ich hier über verschiedene Kanäle erfahre, können die tatsächlichen Opferzahlen gar nicht mit den offiziellen Daten übereinstimmen.

Die Ausschreitungen begrenzen sich aber nicht nur auf Siloé, sondern sind über verschiedene Punkte der Stadt verteilt: Puerto Rellena, Paso del Comercio, Sameco, La Luna, Loma de la Cruz und im Süden der Stadt, wo sich die Universität del Valle befindet. Dort leben Leute mit viel Geld, denen ist dieser Protest ein Dorn im Auge und sie wollen, dass der Streik und die Demonstrationen der Studenten und Arbeiter aufhören. Für diese Leute sind die Demonstranten nichts anderes als Rebellen, Vandalen, Ungebildete, Delinquente und Kriminelle. Das sind ihre Konzepte, das ist ihr Frame, mit welchem sie die Protestler sehen.

Im Norden und im Zentrum der Stadt gibt es Blockaden, aber auch auf den Zufahrtstraßen in die Stadt hinein. Überall dort finden Unruhen statt.

Dann gibt es die Paramilitärs, die gegen die Guerrilla kämpfen. Die Paramilitärs verhalten sich ähnlich wie das Militär, allerdings kann man sie vom Normalbürger nicht unterscheiden, da sie in Zivil auftreten, ohne Uniform oder jegliche Kennzeichnung. Man nimmt an, dass die Paramilitärs ursprünglich zur Abwehr der Guerilla entstanden sind. Aber in Wahrheit sind sie Mörder.

Die Paramilitärs sind eine Streitkraft, die sich außerhalb des rechtlichen Rahmens bewegt. In Bezug auf die Guerillagruppen, da haben wir die FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) und die ELN (Ejército de Liberación Nacional). Dazu kommen die Milizen, die die Ableger der Guerilla in den Städten sind. Schlussendlich sind da noch die Polizei und das Militär. Diese mischen sich als gewöhnliche Teilnehmer unter die Demonstranten und ihre Absichten sind zweifelhaft.

Du siehst, es gibt viele verschiedene und gegensätzliche Interessengemeinschaften. Wie wir wissen, ist der Krieg ein großes Geschäft und hier floriert der Drogenhandel. Ich weiß nicht, wie diese am Drogengeschäft beteiligten Gruppen untereinander organisiert sind, aber sie haben, in Bezug auf die Demonstrationen, das Ziel, die Studenten und andere Teilnehmer, die für ihr Recht einstehen, zu diskreditieren.

Ich kenne sehr viele dieser Studenten und Künstler, die hier auf der Straße sind und friedlich demonstrieren. Das sind ganz normale Leute, gute Leute. Warum werden sie von der ESMAD (Escuadrón Móvil Antidisturbios, entspricht einem mobilen Einsatzkommando, Hundertschaft) ohne Grund angegriffen? Tatsächlich ist es so, dass zwischen den Demonstranten und der Polizei Übereinkünfte getroffen wurden, eine Art Pakt, der besagt: Wir bewegen uns bis hierher und überqueren diese Straße nicht, aber ständig werden diese Vereinbarungen gebrochen und irgendein ESMAD-Mitglied beginnt, mit Tränengas zu schießen, und so eskaliert die Situation.

Dann gibt es auch Leute, die während der stattfindenden Demonstrationen mit Absicht privates und öffentliches Eigentum, Supermärkte und Lagerhallen zerstören. Das macht die Eigentümer und Besitzer natürlich wütend und da sie annehmen, dass es randalierende Studenten sind, unterstützen sie die Maßnahmen des Staates und fordern und befürworten die Gewalt von Polizei und Militär. So werden wir gegeneinander ausgepielt und merken es nicht einmal.

Wer auch immer dahinter steht, er oder sie haben es geschafft, uns, die Bevölkerung, zu spalten. Anstatt unsere Kräfte zu bündeln und konstruktiv einzusetzen, weil wir alle im selben Boot sitzen, weil wir alle ausgebeutet werden, stürzen wir uns mit Hass aufeinander und fordern den Tod des jeweils anderen.

Um noch einmal zur ESMAD zurück zu kommen: Wie sehen deren Attacken auf die Demonstranten aus?

Das Bild ist folgendes: Die Demonstranten fordern lauthals den Rücktritt des Präsidenten Iván Duque, sie rufen und halten ihre Plakate in die Luft. Und plötzlich, aus heiterem Himmel fliegen Projektile mit Tränengas in die Menge. Wir können doch annehmen, dass die freie Meinungsäußerung und der Protest gegen willkürliche staatliche Maßnahmen ein Grundrecht jeden Bürgers ist, oder? Warum greifen sie uns an?

Es ist immer das Gleiche und nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei mit den Attacken beginnt. Auch die Polizei sieht die Demonstranten als Randalierer. Die Beamten warten nur darauf, dass sie einen dieser Vandalen angreifen können. Der Angriff wird oft durch selbstgemachte Sprengkörper provoziert, die Krach machen, und von infiltrierten Teilnehmern eingesetzt werden. Das führt dazu, dass die Polizei dann ohne Warnung schießt und dich tötet.

Welche Waffen setzt die Polizei gegen die Demonstranten ein?

Ihre erlaubten Waffen sind Schlagstöcke und Pistolen mit Tränengasprojektilen. Allerdings ist es ihnen verboten, mit diesen Tränengaspistolen direkt auf Menschen zu zielen. Sie tun es aber trotzdem. Damit haben sie einige junge Leute getötet. Wenn du damit auf die Schläfe einer Person zielst und abdrückst, tötest du sie. Im Moment sind allerdings noch ganz andere Waffen im Einsatz: Kriegswaffen, ich kenne ihre Namen nicht, mit einer Reichweite von bis zu 500 Metern. Diese Art von Waffen dürfen Polizisten hier in Kolumbien normalerweise nicht benutzen. Das zeigt, dass sie hier sind, um zu töten. Das ist ihr Befehl.

Von wem stammt dieser Befehl?

Das sagt niemand. Das Militär handelt einfach. Und die Befehlsgewalt haben Militärs mit einem hohen Dienstgrad. Keiner sagt es laut, aber das ist die Handschrift von Álvaro Uribe. Die Leute nehmen an, dass er daran beteiligt ist. Gerade vor dem aktuellen Hintergrund seiner Aufforderung zum Einsatz von Waffen gegen die Demonstranten auf Twitter ist das, was hier alle vermuten.

Wer hat momentan die Weisungsgewalt in der Stadt?

Die Gouverneurin und der Bürgermeister sind ihres Amtes zeitweilig enthoben. Der Militärkommandant Eduardo Zapateiro hat verkündet, innerhalb von 24 Stunden die Ordnung in der Stadt wieder herzustellen. Wenn nicht, so würde er zurücktreten, so behauptete er. Die soziale Säuberung der Widerständigen hat begonnen.

Wie geht es dir persönlich?

Momentan habe ich Angst am helllichten Tag auf der Straße erschossen zu werden. Ich fühle mich ohnmächtig und tief traurig. Wie können Leute ihre Mitmenschen einfach so, mir nichts, dir nichts, erschießen? Kaltblütig, im Vorbeifahren, ohne jegliche Gefühlsregung. Es ist mir unbegreiflich.

Wie kommst du durch den Tag?

Ich gehe nicht mehr raus. Ich versuche, mich mit dem Spielen meines Instruments auf andere Gedanken zu bringen, aber es ist schwer. Ich sitze viel vor dem Computer, um mich auf dem Laufenden zu halten. Meine Freunde und Kollegen, die trotz der vielen Toten weiter an den Protesten teilnehmen, versuche ich, so gut es geht von zu Hause aus mit den neuesten Informationen zu unterstützen. Ich weine oft.

Danke für das Gespräch, Andrés.

Quellen und Anmerkungen:

(1) Name von der Redaktion geändert

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